Das Gebirge macht nicht jedem Freude: schnelle Wetterumschwünge, unsicheres Gelände, schmale Pfade und dünne Luft. Selbst erfahrenen Bergwanderern treibt es den Schweiß auf die Stirn, wenn sich zu beiden Seiten eines schmalen Grats die Abgründe offenbaren, wie es derzeit bei der globalen Konjunktur der Fall ist.
Rekordhohe Energiekosten ziehen den Unternehmen und Konsumenten den Boden unter den Füßen weg. Die Angst vor dem Absturz wird zum Thema bis in die Mitte der Gesellschaft. Hinzu kommt noch die Gefahr des unmittelbaren wirtschaftlichen Abschwungs. Die notwendige Abwägung zwischen der akuten Entlastung der Verbraucher und der Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit sowie Standortattraktivität ist eine Gratwanderung.
Die globale Konjunktur ist bereits ins Stolpern geraten und zielgenaue geld- sowie fiskalpolitische Entscheidungen sind notwendig, um sich einigermaßen sicher entlang des Grats zu bewegen. Schrittfehler werden sofort bestraft – wie die Entwicklung in Großbritannien jüngst gezeigt hat.
Quelle: Helaba Research & Advisory
All dies spannt den Bogen für unseren Jahresausblick 2023: Vorstellbar ist für die meisten derzeit vor allem der Absturz, also eine tiefe Rezession, dem wir in diesem Jahr mit 30 % eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit beimessen.
Kaum vorstellbar scheint ein baldiges Aufklaren mit viel Sonnenschein. Solche Wetterwechsel sind in der Bergwelt aber jederzeit möglich. Unter dem Begriff Familientour erhält dieses Szenario aber nur eine Wahscheinlichkeit von 10 %. Die höchste Wahrscheinlichkeit von 60 % messen wir unserem Basisszenario Gratwanderung bei.
Neben Inflation und Rezession fordern die geopolitische Unsicherheit und die Energiekrise alle heraus. Wir rechnen in unserem Basisszenario für Deutschland und auch für die USA mit einer Rezession, wenn auch mit divergierendem Timing, etwas anderen Auslösern sowie unterschiedlicher Schärfe.
So wie in den Bergen ist das Wetter auch für die wirtschaftliche Entwicklung ein wesentlicher Faktor dafür, ob es abwärts oder bald wieder aufwärtsgeht. Steht eine Gasmangellage mit entsprechend negativen Entwicklungen auf die Konjunktur ins Haus oder reichen die Vorkehrungen aufgrund des geringeren Heizbedarfs?
Im Basisszenario helfen neue Energiequellen, Sparmaßnahmen und wirtschaftspolitische Unterstützungen, um ein noch negativeres Szenario zu vermeiden. Im Laufe des Jahres 2023 hellt sich das Umfeld wieder etwas auf, so dass die Route ohne Absturz bewältigt werden kann.
„Wenn der Mensch nicht über das nachdenkt, was in ferner Zukunft liegt, wird er das schon in naher Zukunft bereuen.“
Konfuzius
Bereits in unserem Jahresausblick 2022 hatten wir der Nachhaltigkeit einen großen Raum beigemessen. Bei externen Effekten ist es Aufgabe des Staates, regulierend einzugreifen. Lange Zeit wurden die externen Effekte der CO₁-Emissionen vernachlässigt. Der Klimawandel wird jedoch immer offensichtlicher, so dass Nachhaltigkeit in vielen Ländern auf die wirtschaftspolitische und gesellschaftliche Agenda gerückt ist.
Mit dem Wegfall der Gaslieferungen aus Russland ergibt sich nun kurzfristig ein Rückschlag für die nachhaltige Entwicklung wegen des stärkeren Einsatzes von Kohle bei der Stromerzeugung. Mittelfristig können hieraus allerdings durchaus positive Effekte resultieren: Hohe Preise für fossile Brennstoffe lassen grüne Energien relativ günstiger werden.
Aufgrund der großen Bedeutung von Nachhaltigkeit und Energiesicherheit findet sich in unserem Konjunktur- und Kapitalmarktausblick 2023 eine Übersichtstabelle mit einigen interessanten Nachhaltigkeits- und Energieindikatoren für die von uns betrachteten Länder.
Das Jahr 2023 wird eine große Herausforderung auf einem schmalen Grat. Das Gute ist, dass unser Basisszenario zwar viele Risiken und somit auch große Anstrengungen birgt, es letztlich auf der Gratwanderung aber zu keinem Absturz kommt. Dies erfordert ein permanentes Nachjustieren bei politischen Entscheidungen – je nach Beschaffenheit des Weges, dem Zustand der Wandergruppe und der Wetterlage.
Ideologische Befindlichkeiten sind dabei fehl am Platz. Zielgerichtetes Handeln mit einem eindeutigen Fokus ist gefordert. Wenn die Rahmenbedingungen sich ändern, müssen die Entscheidungen angepasst werden. Ein „das haben wir schon immer so gemacht“ ist höchst gefährlich.
„Die Freiheit ist nicht die Willkür, beliebig zu handeln, sondern die Fähigkeit, vernünftig zu handeln.“
Rudolf Virchow
Dies gilt umso mehr, da bereits die Maßnahmen im Umfeld der Corona-Krise die Wandergruppe vom Pfad der Marktwirtschaft weg und in das unwägbare Gelände der interventionistischen Wirtschaftspolitik geführt haben. Rücksicht auf Verschuldung oder die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen spielen kaum noch eine Rolle.
Vielerorts ist zu hören, dass die neue Realität der höheren Verschuldung anerkannt werden müsse. Trittfestigkeit, also die Stabilität einer Volkswirtschaft, wird mit der Akzeptanz steigender Verschuldung und zu-nehmender Eingriffe nicht erhöht – ganz im Gegenteil.
Dr. Gertrud R. Traud
Chefvolkswirtin/Head of Research & Advisory
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