Über das Wohl und Wehe der US-Konjunktur werden in den kommenden Quartalen vor allem zwei Faktoren entscheiden: Erstens die Geschwindigkeit, mit der die Wirkung der Pandemie und der mit ihr verbundenen Restriktionen auf das Verhalten der Menschen abklingt. Sie beeinflusst die Bereitschaft, personennahe Dienstleistungen nachzufragen, einen Teil der 2020/2021 aufgehäuften riesigen Überschussersparnis auszugeben und zur Aufnahme von neuen Beschäftigungsverhältnissen. Per Ende 2021 ist hier die Normalität noch keineswegs erreicht.
Zweitens hat die Erholung mit Hilfe der superexpansiven Fiskal- und Geldpolitik der letzten zwei Jahre in einem lange nicht gesehenen Maße die Flexibilität des Angebots getestet.
Die Engpässe bei Rohstoffen, Zwischenprodukten und Logistikdienstleistungen wirken als eine Wachstumsbremse. Sie deckeln direkt den Output der betroffenen Unternehmen und durch die resultierenden Preiserhöhungen leiden die Realeinkommen der privaten Haushalte. Die Frage, wie schnell die Angebotsseite zur Nachfrage aufholen kann, wird daher eines der zentralen Themen für 2022 sein.
Bereits jetzt ist zu erkennen, dass viele Unternehmen reagieren, indem sie ihre Investitionsausgaben spürbar hochfahren. Wir gehen davon aus, dass sich diese Kapazitätsausweitungen in den kommenden Quartalen fortsetzen und die Investitionen eine wichtige Stütze der Konjunktur sein werden, während sich die Zuwächse beim Konsum relativ zu 2021 deutlich verlangsamen. Mangels vergleichbarer Erfahrungen ist die Unsicherheit jedoch hoch, wie schnell die Engpässe beseitigt werden können.
Für 2022 insgesamt rechnen wir mit einem durchschnittlichen BIP-Wachstum von 4 %. Dies ist nicht mehr ganz so hoch wie die 2021 verzeichneten 5,5 %, aber klar oberhalb des Trendwachstums von unter 2 %.
Die Arbeitslosenquote dürfte schon im Laufe des Jahres 2022 wieder unter 4 % fallen und damit die Definition der Fed von Vollbeschäftigung erfüllen. Angesichts der Verwerfungen, die die Pandemie am US-Arbeitsmarkt ausgelöst hat, ist aber jenseits der offiziellen Arbeitslosenzahlen von einer „stillen Reserve“ auszugehen, die sich nur graduell abbauen sollte. Die akuten Probleme vieler Arbeitgeber, ausreichend Beschäftigte zu finden, werden sich tendenziell entspannen, aber nicht über Nacht in Wohlgefallen auflösen.
Die Fiskalpolitik, die das Wachstum in der Pandemie massiv gestützt hat, wird 2022 bremsen. Bei Abschluss dieser Publikation war das Schicksal eines der beiden großen Fiskalpakete – des Sozialpakets – noch nicht entschieden. Das Infrastrukturprogramm hat der Kongress nach langem Ringen verabschiedet.
Wir unterstellen in unserer Prognose, dass letztlich beide Gesetz werden, wobei das Sozialpaket von der ursprünglich anvisierten Summe von 3,5 Bio. Dollar über zehn Jahre deutlich schrumpfen wird. Die in den ursprünglichen Plänen enthaltenen Steuerhöhungen dürften ebenfalls im politischen Prozess entschärft werden. Selbst in diesem Szenario sind die 2022 wirksam werdenden Ausgaben im Vergleich zu den gewaltigen Stimuluspaketen der Vorjahre geringer, so dass die Fiskalpolitik restriktiv wirkt.
Kleinere Defizite sind auch dringend angezeigt, denn die öffentliche Schuldenquote der USA hat den früheren Rekordstand nach dem Zweiten Weltkrieg bereits erreicht. Der Schuldenzuwachs 2020/2021 stellt sogar weit in den Schatten, was während der Finanzkrise 2008/2009 geschah.
Beide großen Gesetzespakete enthalten Maßnahmen zur Reduktion der CO₁-Emissionen, nachdem Präsident Bidens Amtsvorgänger Schritte in dieser Richtung komplett verweigert und sich sogar die Förderung fossiler Energieträger auf die Fahne geschrieben hatte. Die neue Politik setzt in erster Linie auf (Steuer-)Subventionen oder staatliche Investitionen.
Ein Preis für CO₁ ist in den Plänen ebenso wenig enthalten wie eine Erhöhung der Bundessteuer auf Benzin, die in den USA seit 1993 nominal fixiert ist. Derartige Belastungen der US-Bürger hält Biden wohl mit Blick auf die republikanische Opposition, die alle solche Maßnahmen bislang fundamental ablehnt, für unzumutbar.
„Wir sind zu 100 % darauf fokussiert,
[Präsident Bidens] Regierung zu stoppen.“
Mitch McConnell, Minderheitsführer im US-Senat
Die Uhr tickt – im Hinblick auf die Umsetzung aller Ziele der Demokraten, nicht nur für die Energiewende. Bei den Kongresswahlen im November 2022 verlieren die Demokraten wahrscheinlich die Mehrheit im Senat und vielleicht auch im Repräsentantenhaus. Die Republikaner werden aber nennenswerte Schritte in Richtung einer Dekarbonisierung der Wirtschaft nicht mittragen. Das Zeitfenster für solche Maßnahmen dürfte sich daher Ende 2022 schließen.
Nicht nur die Wachstumsperspektiven hängen von der weiteren Entwicklung der Engpässe ab, dies gilt auch und gerade für die Teuerung. Der Preissprung im Frühjahr und Sommer 2021 reflektierte vor allem die sich in diesem Zeitraum rapide normalisierende Nachfrage, die nicht zuletzt von Präsident Bidens Stimuluspaket angetrieben wurde. Dieser Prozess hat sich spürbar verlangsamt und entsprechend nimmt auch die Dynamik des Kernindex (ohne Energie und Nahrungsmittel) ab.
Selbst wenn es bis weit ins Jahr 2022 hinein dauern dürfte, bis sich die dramatischen Engpässe weitgehend entspannt haben, sollte der Preisdruck graduell nachlassen. Dabei stellen sich die Prognosen der Notenbank allerdings wie erwartet als zu optimistisch heraus.
Das Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage wird auf Monate hinaus dafür sorgen, dass der Preisauftrieb erhöht ausfällt – und damit über dem Ziel der Fed von 2 % liegt. In diesem Sinn ist der Sprung der Inflation zwar „temporär“, aber doch von längerer Dauer – zumal die Fed diesen Prozess mit ihrer extrem großzügigen Liquiditätspolitik alimentiert.
Joe Biden tritt zudem in der Handelspolitik in die Fußstapfen seines Vorgängers, so dass sich keine inflationsdämpfende Lockerung von Handelsrestriktionen abzeichnet.
Unter dem Strich werden diese Faktoren wohl dafür sorgen, dass die Inflation 2022 – auch wegen einer erwarteten weitgehenden Seitwärtsbewegung der Energiepreise – mit 4 % zwar niedriger ausfällt als 2021 (4,6 %), aber erneut deutlich über dem Schnitt der letzten fünf Jahre von 1,8 % liegen wird.
Für die Kernrate prognostizieren wir für 2022 wie für 2021 einen Wert von rund 3½ %. Eine höhere Kernteuerung verzeichneten die USA zuletzt als „November Rain“ von Guns n‘ Roses in den Charts war und „The Bodyguard“ mit Kevin Costner im Kino lief – im Jahr 1992.
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