Die Energiewende ist eine Mammutaufgabe – und die wirtschaftliche und politische Ausgangslage seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine eine andere. Welche Verschiebungen in der Geschäftstätigkeit der EnBW und im Energiesektor sehen Sie schon beziehungsweise erwarten Sie mittel- und langfristig?
Lothar Rieth: Ohne Frage stellen die Auswirkungen des schrecklichen Kriegs in der Ukraine die EnBW vor beträchtliche Herausforderungen. Aber wir sehen uns auch in unserer Strategie bestätigt: Seit 2012 baut die EnBW die erneuerbaren Energien massiv aus – vor allem die Windkraft an Land und auf See sowie die Fotovoltaik. Mittlerweile sind rund 40 Prozent unseres Erzeugungsportfolios erneuerbar, bis 2025 wollen wir die Leistung auf über 50 Prozent erhöhen. Parallel dazu entwickeln wir uns von einem reinen Energieversorger zu einem nachhaltigen Infrastrukturpartner weiter. Dazu investieren wir auch in neue Geschäftsfelder jenseits von Energie. In der aktuellen Situation rückt natürlich die Versorgungssicherheit für Privat- und Geschäftskunden mit Strom und Gas in den Fokus, und zwar zu bezahlbaren Konditionen. Kurzfristig sind dafür fossile Energieträger unverzichtbar. Gleichzeitig müssen wir jetzt den Übergang zu einer langfristig CO2-freien Energieversorgung beschleunigen – auch indem wir derzeit entstehende Energieinfrastrukturen perspektivisch nachhaltig nutzen, zum Beispiel um Strom aus grünem Wasserstoff zu erzeugen und zu transportieren.
Um den Wandel hin zu einer klimaneutralen, ressourceneffizienten Wirtschaft zu beschleunigen, gelten zunehmend strenge, EU-weite Vorgaben. Wie ordnen Sie als Energieunternehmen beziehungsweise als Finanzinstitut, das untrennbar mit internationalen Märkten verbunden ist, diese Regulierungen ein, die die europäische Wirtschaft zu mehr Nachhaltigkeit verpflichten?
Lothar Rieth: Die EnBW steht uneingeschränkt hinter den Klima- und Umweltschutzzielen der EU. Gerade die EU-Taxonomie haben wir von Beginn an unterstützt, weil sie dringend benötigtes privates Kapital für die Nachhaltigkeitstransformation mobilisiert, zum Beispiel von Investoren, Pensionskassen oder Versicherungen. Grundsätzlich sind wir davon überzeugt, dass der EU-Wirtschaftsraum mit den Brüsseler Maßnahmen – etwa Green Deal oder Fit for 55 – in seine eigene globale Wettbewerbsfähigkeit investiert. Zur Erreichung der Klimaschutzziele können wir als Energieversorger dabei natürlich einen weit größeren Beitrag leisten als etwa zu den Zielen, eine Kreislaufwirtschaft zu etablieren oder die Biodiversität zu erhalten.
Petra Sandner: Dem schließe ich mich an. Mit dem Green Deal übernimmt die EU eine Vorreiterrolle, das ist vor allem angesichts der Zurückhaltung der USA in den letzten Jahren zu begrüßen. Wir sehen hier eine große Gestaltungschance für die EU, zum führenden Kontinent für eine nachhaltige Entwicklung zu werden. Und nur wenn wir selbst echte Fortschritte erzielen, können wir auch von anderen Staaten und Weltregionen glaubwürdig mehr Einsatz einfordern, ob im Kampf gegen den Klimawandel oder für die Wahrung der Menschenrechte in der gesamten Wertschöpfungskette. Die EU-Regulatorik ist also richtig und wichtig, um einen geeigneten Rahmen zu setzen, befindet sich aber teilweise noch im Findungsprozess. An einigen Stellen sind die Vorgaben etwa der Taxonomie zu detailliert; manche Aspekte wie die Finanzierung sozialer Vorhaben oder die Transformationsfinanzierung sind bisher außen vor geblieben; anderes ist noch nicht aufeinander abgestimmt.
Dr. Lothar Rieth,
Leiter Nachhaltigkeit bei EnBW
Dr. Lothar Rieth ist seit 2011 bei der EnBW tätig. Seit Juni 2021 leitet er den Nachhaltigkeitsbereich der EnBW und verantwortet insbesondere die Themen Berichterstattung, Sustainable Finance und nachhaltige Beschaffung. Er gehört seit 2018 dem econsense-Vorstand an, seit 2019 dem Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung und seit 2021dem DRSC-Fachausschuss Nachhaltigkeitsberichterstattung. Der studierte Verwaltungs- und Politikwissenschaftler promovierte 2008 zu „CSR und Global Governance“.
Für die Nachhaltigkeitstransformation übernimmt die Energiebranche eine Schlüsselrolle. Was sind drei zentrale Maßnahmen, mit denen EnBW als drittgrößtes Energieunternehmen Deutschlands dieser Verantwortung nachkommt?
Lothar Rieth: Erstens verfolgen wir im Rahmen unserer strategischen Nachhaltigkeitsagenda konsequent und mit wissenschaftsbasierten Zielen einen Dekarbonisierungspfad, um bis zum Jahr 2035 klimaneutral zu werden. Unsere Treibhausgasemissionen im gesamten Kerngeschäft zu reduzieren, das ist für uns eine klare Handlungsmaxime. Zweitens entwickeln wir neue Geschäftsfelder, die der Transformation dienen. Zum Beispiel investieren wir in den Ausbau der E-Schnellladeinfrastruktur oder des Glasfasernetzes besonders im ländlichen Raum. Drittens etablieren wir Nachhaltigkeit als wesentliche Handlungsgröße in internen Prozessen. So prüfen wir Investitionsentscheidungen beispielsweise seit zwei Jahren nicht nur auf ihre strategische Relevanz und Rentabilität, sondern auch auf ihre Zukunftsfähigkeit und ihren Beitrag zur Nachhaltigkeit. Wir nehmen dabei nicht nur Umwelt- und Klimathemen in den Blick, sondern auch soziale Fragen der Nachhaltigkeit – etwa in Form von Nachhaltigkeitsprüfungen unserer Lieferanten. Das Thema ist aktuell auch bei der Suche nach Alternativen zu russischen Kohle- und Gasimporten sehr relevant.
Die Helaba will ihre Kunden aus der Realwirtschaft und der öffentlichen Hand bei ihrer Nachhaltigkeitstransformation unterstützen – was bieten Sie dafür konkret an? Was fordern Sie wiederum von Ihren Kunden?
Petra Sandner: Wenn wir sagen, dass wir einer echten Transformation der Realwirtschaft verpflichtet sind, dann heißt das: Wir wollen möglichst viele Kunden auf diesem Weg mitnehmen, anstatt nur Ausschlusskriterien zu definieren oder Quick Wins für die CO₁-Bilanz zu finanzieren. Das erfordert Detailarbeit; im Kreditgeschäft sind es meist Einzelfallentscheidungen, welche Kunden wir wie unterstützen, zum Beispiel bei der Anpassung ihres Geschäftsmodells. Aus unserer Sicht ist diese Begleitung für die Transformation oft wertvoller als ein Ende der Kundenbeziehung. Wir suchen also einen vertieften Dialog mit unseren Kunden, um uns ein Gesamtbild zu verschaffen: Wie analysiert das Unternehmen seinen CO₁-Fußabdruck, einschließlich vor- und nachgelagerter Emissionen? Welche Schritte zur Emissionsreduktion hat das Unternehmen bereits unternommen? Wie ist das Thema ESG im Management verankert, wie wird es gelebt? Diese und weitere Nachhaltigkeitsaspekte werden künftig den gleichen Stellenwert in der Kundenanalyse haben wie Finanzkennzahlen.
Petra Sandner ist seit Februar 2021 Chief Sustainability Officer der Helaba-Gruppe. Zuvor arbeitete sie, ab 2008, im Bereich Transportfinanzierung der Helaba. In dieser Zeit begleitete sie verschiedene strategische Projekte der Bank. Davor war Petra Sandner bei der IKB Deutsche Industriebank AG in der Akquisitionsfinanzierung und bei der Aareal Bank AG im Bereich Real Estate Structured Finance / Hotel Finance tätig. Ihr MBA-Studium schloss sie im britischen Newcastle ab.
Wie gehen Ihre Organisationen intern die Nachhaltigkeitstransformation an? Was haben Sie dabei bisher gelernt, zum Beispiel über Erfolgsfaktoren und Hindernisse?
Lothar Rieth: Zur Umsetzung unserer Nachhaltigkeitsagenda arbeiten wir bei der EnBW an 15 konkreten Maßnahmen – jede davon mit Zielen und KPIs hinterlegt – und eng mit den betroffenen Funktional- und Geschäftseinheiten zusammen. Manchmal müssen wir den Mehrwert bestimmter Nachhaltigkeitsmaßnahmen etwas genauer erklären, aber erfahrungsgemäß treffen wir hier auf viel Verständnis und Motivation.
Petra Sandner: Eine Organisation kann nur dann glaubhaft nachhaltig in ihren Geschäftsfeldern agieren, wenn sie selbst authentisch ist. Dazu braucht es zum einen das klare Commitment der Führung; bei der Helaba haben wir Nachhaltigkeit als einen von drei strategisch relevanten Schwerpunkten definiert und 2020 das gruppenweite Programm HelabaSustained ins Leben gerufen. Zum anderen braucht es Ansätze, um ESG-Themen in die Breite der Belegschaft zu tragen. Das ist eine meiner zentralen Aufgaben als CSO: Nachhaltigkeit die nötige Sichtbarkeit zu verschaffen, auch nach innen – mit Leidenschaft, Überzeugungskraft und einer gewissen Hartnäckigkeit.
„Eine Organisation kann nur dann glaubhaft nachhaltig in ihren Geschäftsfeldern agieren, wenn sie selbst authentisch ist. Dazu braucht es das klare Commitment der Führung.“
Petra Sandner,
CSO der Helaba
Wo sehen Sie in Ihrer Branche die größten Herausforderungen für die Nachhaltigkeitswende in den kommenden zwei, drei Jahren?
Lothar Rieth: Wenn erneuerbare Energien zügiger ausgebaut werden sollen, muss Bürokratie abgebaut werden. Genehmigungsverfahren für Windparks von bis zu sechs, sieben Jahren müssen der Vergangenheit angehören. Eine weitere Herausforderung sehen wir darin, Klimarisiken für die EnBW klar zu identifizieren und angemessen auf diese zu reagieren: Welche Frühwarnsysteme, welches Risikomanagement brauchen wir, damit unsere Anlagen, Infrastrukturen und Lieferketten zuverlässig und sicher funktionieren, trotz Extremwetter oder Windflauten?
Petra Sandner: Zunächst ist – das zeigt etwa die Taxonomie – Einheitlichkeit bei Nachhaltigkeitsstandards und -messgrößen entscheidend, und zwar branchenübergreifend. Dann sind alle Beteiligten gefragt, diese Begriffe mit Leben zu füllen, auch im Finanzsektor. Sehr wertvoll für uns sind Brancheninitiativen der Kreditwirtschaft zu Sustainable Finance, in denen wir gemeinsam Standards, Methoden und Prozesse erarbeiten und vor allem das Risikomanagement weiterentwickeln. Die Helaba bringt sich zum Beispiel bei GSFCG und ECORE ein und hat IMPACT mitgegründet. Dabei sehen wir immer wieder: Umbrüche zu begleiten ist das Kerngeschäft von Banken, und das seit Jahrzehnten und Jahrhunderten. Um die Wirtschaft jetzt zu einer klimafreundlicheren, ressourceneffizienteren und sozial gerechteren zu transformieren, fehlt es also nicht an Erfahrung und Kompetenzen!
Mit wachsendem Nachdruck fordern Gesellschaft und Politik von Unternehmen, dass sie Klima und Umwelt schützen, soziale Gerechtigkeit fördern und verantwortungsvoll wirtschaften. Nachhaltigkeit gilt als bestimmender Faktor für die Zukunftsfähigkeit, und zwar für Unternehmen aller Branchen – egal, ob ihr Geschäftsmodell für Nachhaltigkeit steht oder nicht. Dabei können – und müssen – gerade Akteure aus Schlüsselbranchen und -sektoren wie Chemie und Metall, Maschinenbau sowie Verkehr mit ihren jeweiligen Nachhaltigkeitsstrategien große Wirkung erzielen.
Für diese Transformation der Realwirtschaft bedient die Finanzindustrie einen zentralen Hebel: Mit Hilfe von Sustainable-Finance-Instrumenten und -Produkten lenkt sie Kapital in Geschäftsmodelle, Infrastrukturen, Technologien und Prozesse, die nachhaltige Wirkung entfalten. Insbesondere Banken sind aufgefordert, diese Gestaltungskraft zu nutzen.
Um diesem Auf- und Umbruch einen europaweit einheitlichen Rahmen zu geben, arbeiten die EU-Institutionen an einem umfassenden Regelwerk. Die darin definierten Ziele und Standards machen Nachhaltigkeit zum Must-have der Real- und Finanzwirtschaft – und folgen dem Anspruch, Europa zu einem führenden Kontinent für nachhaltige Entwicklung zu machen.